Deutschlands Wirtschaft steckt tief in der Krise. Doch warum eigentlich? Ökonom Hans-Werner Sinn spricht im Interview über Merkel, Scholz und den Alleingang der EU.
Ein Artikel von Flynn Jacobs
Egal ob bei VW, Ford, Continental, Bosch, Thyssenkrupp oder BASF: Kaum ein Tag im Jahr 2024 vergeht ohne eine neue Meldung über Gewinnverluste, Umsatzeinbrüche, massiven Stellenabbau, Werkschließungen oder sogar Insolvenzen. Die deutsche Wirtschaft ist in eine schwere Krise gestürzt.
Die Liste der Unternehmen, die deswegen in schwere Fahrwasser geraten, wird länger und länger. Dabei dürfte die von den angeschlagenen Firmen angeführten Probleme des Wirtschaftsstandorts Deutschland mittlerweile jeder im Land auswendig können: zu viel Bürokratie, hohe Energiepreise, Fachkräftemangel, Personalkosten, schlechte Infrastruktur, fehlende Digitalisierung oder auch vergleichsweise hohe Steuern.
Die Suche nach einem Weg aus der Krise wirft ebenso viele Fragen auf wie die Ursachenforschung der Krise. Ist Deutschland mittlerweile von anderen Ländern abgehängt? Ist – wie von Kritikern häufig zu hören – allein die gescheiterte Ampelregierung für den Zustand des Landes verantwortlich? Welche Fehler wurden bereits zuvor in den letzten Jahren begangen? Der Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn, ehemaliger Leiter des Ifo-Instituts, liefert im Interview mit der Berliner Zeitung einen Erklärungsversuch und rechnet mit der Arbeit der Bundesregierung und der EU-Politik ab.
Herr Sinn, Deutschlands Wirtschaft durchlebt momentan eine äußerst schwere Zeit. Zahlreiche Unternehmen schließen Werke und bauen umfangreich Stellen ab. Jüngstes Beispiel ist Thyssenkrupp. Überraschen Sie solche Meldungen überhaupt noch?
Nein, das überrascht mich nicht, denn ich habe jetzt seit einigen Jahren genau davor gewarnt als Folge der EU-Verbrennerverbote.
„Es findet in Deutschland eine Deindustrialisierung statt“
Trotz Miniwachstum im dritten Quartal wird erwartet, dass die deutsche Wirtschaft 2024 im zweiten Jahr in Folge eine Rezession verkraften muss. Wie schätzen Sie die Situation ein?
Es findet eine Deindustrialisierung statt. Die Industrie ist mit ihren Exporten das Rückgrat unserer Wirtschaft, sie macht ein Fünftel der Wirtschaftsleistung aus. Die meisten Industriesektoren sind jetzt schon seit 2018 im Rückschritt. Wir haben in diesen sieben Jahren zweistellige Schrumpfungsraten.
Sie sagten kürzlich, Deutschland stehe an einem historischen Wendepunkt seiner Entwicklung. Wie ernst ist die Lage für unser Land?
Die Deindustrialisierung wurde bislang vor allem durch die Klima- und Energiepolitik der EU hervorgerufen, die auf dem Wege von EU-Verbrauchsverboten für fossile Brennstoffe und hohen Energiepreisen zu einer Drosselung der Wirtschaft führte. Und nun kommt noch Trump. Als die EU der deutschen Autoindustrie mitteilte, sie könnten ihre Verbrennungsmotoren bald nicht mehr in Europa verkaufen, blieb noch das Schlupfloch, diese Motoren anderswo, zum Beispiel in den USA, zu verkaufen. Aber das will Trump jetzt mit neuen Zöllen verhindern, während er zugleich ein ganz anderes Schlupfloch öffnet: Die deutschen Hersteller sollen nicht die Autos, sondern gleich ihre ganzen Autofabriken in die USA exportieren. Die Vorstände der Autofirmen mögen bei dem Thema gelassen bleiben. Doch für die Bevölkerung ist das der Supergau.
Was bedeutet diese Wirtschaftskrise perspektivisch für den einzelnen deutschen Bürger?
Sie bedeutet perspektivisch eine Verminderung unseres Wohlstands. Davor bliebe keiner verschont. Die Autoindustrie ist das Herzstück unserer Wirtschaft. Wir haben die Verbrennungsmotoren im 19. Jahrhundert erfunden und produzieren heute hocheffiziente Motoren, die uns keiner nachmachen kann – nicht einmal die Koreaner oder die Japaner. Sie sind quasi ein Alleinstellungsmerkmal der deutschen Automobilindustrie geworden. Der Doppelgriff von EU und Trump droht nun aber, die Hersteller aus Deutschland herauszuquetschen.
Die Amerikaner fingen an mit Stickoxid-Vorgaben, dann kam Volkswagen mit der Mogelei bei den Abschaltvorrichtungen und dann die EU, die sich plötzlich am CO₂-Thema aufgehängt hat und die Automobilfirmen seit 2018 mit getürkten Formeln für den CO₂-Ausstoß der Autos stranguliert. Und dann kommt ab 2035 noch ein hartes Verbrennerverbot. Schon im Jahr 2018 sind CO₂-Grenzwerte für die Flotte eines Herstellers verhängt worden, die darauf hinauslaufen, dass ein Auto im Schnitt nur mit nur 2,2 Litern Diesel-Äquivalenten pro 100 Kilometer fahren soll. Das ist technisch gar nicht darstellbar.
Der Trick der EU ist, dass Elektroautos in die Flotte eingebaut werden sollen, die angeblich einen CO₂-Ausstoß von null haben. Zwei Drittel Elektroautos machen aus 2,2 Litern 6,6 Liter – das geht dann schon für das eine Drittel Verbrennerautos, die man noch produziert. Aber eben nur mit einer Mogelei: Denn die Elektroautos haben selbstverständlich auch einen CO₂-Ausstoß in Form des Schornsteins, der einfach etwas weiter weg im Kohle- oder Gaskraftwerk liegt.
Zum Gesprächspartner
Hans-Werner Sinn ist emeritierter Präsident des Ifo-Instituts und Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er gründete und leitete das internationale CESifo-Forschernetzwerk und das Forschungsinstitut CES. Er war Vorsitzender des Weltverbandes der Finanzwissenschaftler (IIPF) und des Vereins der deutschsprachigen Ökonomen (VfS). In den letzten Jahren beschäftigte sich Sinn vor allem mit der Eurokrise, der Europäischen Zentralbank, dem Brexit, Demografie und Migration sowie mit grüner Energie.
Quelle und Erstveröffentlichung
Berliner Zeitung